Der Zeitball

Im Alter von sieben Jahren begann Tobias zu begreifen, dass seine Eltern niemals verstehen würden, was er fühlte. Denn er verstand nicht, was sie fühlten.
Warum ließen sie ihn so oft allein? Sie mussten doch wissen, dass ein Kind nicht gern ohne seine Eltern war.

Sie hätten wenig Zeit, sagten sie immer, wenn er sie fragte, warum sie nicht da wären oder wenn er mit ihnen etwas unternehmen wollte.
„Wir müssen so viel arbeiten, damit es uns gut geht.“

Keine Zeit, damit es uns gut geht. So ein Unsinn. Tobias ging es nicht gut, weil sie keine Zeit für ihn hatten.
Auch an den Wochenenden unternahmen die Eltern selten etwas mit ihm, weil sie zu Hause an ihren Computern saßen. Und wenn nicht, dann gingen sie mit ihm ins Kino, wo Tobias zwar von den bunten Bildern und Geschichten unterhalten wurde, aber weder mit Vater noch mit Mutter über das reden konnte, worüber er reden wollte. Oder sie machten einen dieser langweiligen Spaziergänge durch den Park, bei denen entweder der Vater oder die Mutter schnell im Kreis umher rannten, um zu schwitzen. Oder sie gingen etwas einkaufen, wo er sich zwar tolle Sachen aussuchen durfte, aber sich trotzdem missverstanden fühlte, weil sie wieder kaum mit ihm sprachen, sondern ihn nur fragten, ob er dies oder jenes haben wolle.

Aber für Tobias war das etwas haben wollen nicht mit seinen wirklichen Wünschen vergleichbar. Sagte er, dass sein einziger Wunsch sei, dass beide früher zu Hause sein sollten, damit er in ihrer Nähe sei, lächelten sie immer nachsichtig und erwiderten nur, dass es dafür später noch genug Zeit gebe, aber momentan stünde eine Menge an in ihren Jobs, wo man sich auf sie verlasse.

Als ob der Junge sich nicht auch auf sie verlassen wollte. Und überhaupt. Dieses Wort – verlassen. Ich verlasse mich auf dich – oder – ich verlasse dich.

Tobias hatte also erkannt, dass dieses merkwürdige Verhalten seiner Eltern immer etwas mit der Zeit an sich zu tun hatte. Deshalb mochte er sie nicht. Die Zeit. Und er wollte unbedingt herausfinden, was sich dahinter verbarg.
Er glaubte, schon ungefähr zu wissen, was dieses Wort bedeuten könnte.

Es teilte den Tag in Aufgaben und Alleinsein.
Aufstehen, in die Schule gehen, auf die Pausenklingel warten, auf die Abholung durch die Kinderfrau, dann Hausaufgaben machen und an bestimmten Tagen zum Fußballtraining gehen, dort anfangen, Spaß am Spiel zu haben, bis er wieder aufhören musste, weil das Training zu Ende war. Und abends vor dem Schlafengehen musste er sich die Zähne putzen für zwei Minuten.
Das war die Zeit, wie Tobias sie erlebte. Aber für tolles Kuscheln mit Vater oder Mutter war sie irgendwie nicht da.

Es musste etwas Unangenehmes an der Zeit sein, weil niemand welche hatte. Und da seine Eltern auch sehr wenig davon hatten, fühlte sich Tobias nicht wohl – also musste tatsächlich etwas Unangenehmes an der Zeit sein.

Einmal hatte Tobias den großen Wecker, der auf seinem Nachttisch stand, auseinandergeschraubt und in ihm nach der Zeit gesucht. Schließlich gab das runde Ding ja an, wie spät es war. Doch er fand nur Schrauben, Zahnräder und kleine Metallfedern. Und zusätzlich tickte der Wecker nicht mehr.

Tobias weinte, weil er dachte, dass er die Zeit getötet hätte. Da war der Vater ins Zimmer gekommen und hatte gelacht, nachdem ihm Tobias alles erzählt hatte. Die Zeit könne man nicht töten, hatte er gesagt. Die vergehe einfach, ohne dass man sie aufhalten könne. Und so eine Uhr sei ja nur eine Maschine. Aber das werde Tobias schon noch verstehen, wenn er größer sei.

Diese Erklärung verstand er nicht. Er fühlte nur, dass der Vater ihn nicht in die Arme genommen hatte, um ihn zu trösten. Und dass er seinen Verlust als keinen Verlust abgetan hatte mit einem Lachen.

Wenige Tage später hatte Tobias darüber nachgedacht, wie er sich die Zeit noch vorstellen könne, um sie zu verstehen – denn etwas musste sie ja sein, weil so viele Menschen von ihr sprachen. Dabei fiel ihm ein, dass die Erde rund war und sich immer um sich selbst drehte. Auch viele Uhren, von denen man die Zeit ablas, waren rund. Und die Zeiger drehten sich. Also musste die Zeit auch rund sein und sich drehen. Wie ein Ball vielleicht? Aber es musste ein unsichtbarer Ball sein, weil die Zeit selbst ja auch unsichtbar war. Konnte man ihn deshalb auch nicht festhalten? Weil man ihn ja nicht sah? Den Zeitball? Hatte man also wirklich keine Zeit für sich, weil man ja mit etwas Unsichtbarem nicht spielen konnte? Geschweige denn festhalten mit den Händen?

War Zeit wie Luft? Komisch. Warum sprachen die großen Menschen dann mehr von der Zeit als von der Luft? Das stellte ihn nicht zufrieden. Denn, sagte sich Tobias. Wenn ich die Zeit wirklich will, dann kann ich sie sehen. Denn ich weiß ja, dass es dunkel und hell, also Tag und Nacht wird, also dass die Zeit da ist und vergeht. Und wenn ich will, kann ich sie also sehen und auch festhalten und mit ihr spielen. Denn ich kann langsam gehen und langsam reden. Dann vergeht die Zeit auch langsamer. Oder ich gehe schnell und rede schnell. Dann ist sie auch schneller vorbei.
Und da er am liebsten Fußball spielte, musste also auch die Zeit ein kleiner Ball sein, mit dem er alles machen konnte, was er wollte. Werfen und fangen und festhalten und wieder werfen und fangen und festhalten.

Damit stand für ihn unwiderlegbar fest, dass die Zeit wie ein kleiner unsichtbarer Ball war. Und in seiner Fantasie war dieser farbenfrohe Ball nicht aus Stoff. Er war auch nicht aus Plastik. Und selbst Tobias konnte nicht sagen, woraus er wirklich bestand. Vielleicht bestand er aus so etwas wie trockenem Wasser. Das war ein Wasser, dass man ganz weich zwischen den Fingern fühlen konnte, ohne dass es die Hand nass machte. So irgendwie musste die verfluchte Zeit sein, weil sie auch irgendwie zwischen den Fingern durchrann, ohne dass er sie fühlte.

Aber im Grunde war es ja eigentlich nicht wichtig, woraus die Zeit als Ball bestand. Musste denn immer alles aus irgendwas gemacht sein?

Eines Tages hatten die Eltern Freunde zu Gast. Tobias wurde nach seinem liebsten Spielzeug gefragt. Er legte seinen Zeitball auf den Tisch und verkündete stolz: „Das ist es.“
Die Großen sahen sich erst verdutzt an und lachten dann, weil sie nichts sahen. „Was ist denn da?“ fragte die Mutter. „Na, mein Zeitball!“ sagte er stolz und fragte sich, warum die Großen nichts sahen, sondern nur lachten und ihm fast mitleidvoll über den Kopf strichen und sagten, wie herrlich es doch sei als Kind, wie großartig diese kindliche Fantasie doch sei, so naiv und unschuldig. Denn sie konnten immer noch nichts sehen.

Dass die Erwachsenen ihn nicht ernst genommen hatten, war bitter für den Jungen. Und Tobias fragte sich, ob man als Erwachsener keine Fantasie mehr hätte. Wenn das so wäre, wollte er niemals erwachsen werden.

Von nun an spielte Tobias nur mit seinem Zeitball, wenn er allein war. Er warf ihn hoch, fing ihn auf, warf ihn gegen eine Wand – und immer sprang er zu ihm zurück. Aber es gab auch Tage, da musste er ihm hinterherrennen, weil er wirklich von ihm weggesprungen war. Das geschah meistens, wenn er unterwegs war. In der Wohnung konnte der Ball ja nicht wegrollen. Aber draußen. Auf der Straße. Oder im Park. Da machte das Ding manchmal, was es wollte. Und Tobias brauchte wieder Zeit, um ihn zu finden. Dann kam er manchmal zu spät nach Hause, weil es dauerte, bis er den Ball wiedergefunden hatte – denn niemand konnte ihm bei der Suche helfen; der kleine Ball war ja unsichtbar.
Natürlich glaubten ihm die Eltern nicht, als Tobias erschöpft auf der Türschwelle stand und sagte, dass er zu spät sei, weil ihm die Zeit davongesprungen sei.
An solchen Tagen musste er früh ins Bett, ohne Fernsehen. Aber das machte nichts. Tobias war glücklich. Er hatte ja seinen Zeitball wiedergefunden, legte ihn neben seinen Kopf auf das Kissen, träumte von ihm, und am nächsten Morgen lag der Ball immer noch da, bereit fürs Spielen.

In jenem Sommer nun, als er begriff, dass er für immer der einzige Mensch sein würde, der verstand, was er fühlte, war ein langer erholsamer Urlaub geplant. Ein Bergurlaub mit viel Schwimmen, Wandern, Laufen, Spazierengehen und Spielen. Schon Wochen vorher hörte er ständig die Eltern darüber reden, wie sehr sie sich auf die Entspannung der freien Tage freuten. Endlich hätten sie Zeit, etwas für sich zu tun. Endlich könnten sie so richtig als Familie zusammensein. Und diese Worte von Vater und Mutter hörten sich für Tobias wie ein leiser Zauber an.
Endlich Zeit für Familie!

Als er mit ihnen in diesem Berghotel angekommen war, fragte er sich allerdings sofort, was er dort sollte. Schnell hatte er erkannt, dass er das einzige Kind war. Bloß gut, dass er sein liebstes Spielzeug bei sich trug.

Am ersten Morgen ihres Aufenthalts, nach dem Frühstück, zogen sich die Eltern in den Wellnessbereich zurück. Er könne ja mitkommen zum Schwitzen und Entspannen oder
Baden im Pool. Aber Tobias wollte nicht in diese verdammt heiße Sauna gehen. Das war nichts für ihn. Und schwimmen wollte er auch noch nicht. Er wollte lieber mit den Eltern durch den Wald toben.
Das würden sie noch tun, hatten Vater und Mutter geantwortet, aber sie wollten erstmal einen Tag lang einfach nichts machen. Nur Zeit für sich selbst haben.

Und Tobias war wieder allein. Er trat mit seinem kleinen Zeitball vor das Hotel und blickte über ein weites Tal. Er sah Felder, Wiesen und riesige Kühe auf zaunlosen Weiden. Dazwischen schmiegten sich Bauernhäuser gegen die langsam aufsteigenden Steilwände des Gebirges und wurden von hohen Bäumen vor Wind und Wetter geschützt. Die steinernen Bergketten der Alpen umsäumten diese Idylle und besaßen ab und an noch schneebedeckte Spitzen. Und gerade, als er in Richtung Norden blickte, war ihm, als würde dieses Weiß mit dem hellblauen Himmel zu einem funkelnden Leuchten verschmelzen. Dorthin wollte er gehen; denn er spürte, dass im Norden etwas auf ihn wartete, obwohl er sich nicht sagen konnte, was.

Er betrachtete sein kleines Spielzeug und ging ein paar Schritte auf ein Waldstück zu, das auf seinem Weg lag. Dabei warf er ab und an das kleine Ding in die Luft und fing es wieder auf.

Plötzlich griff er daneben. Der Ball fiel zu Boden, und weil es sehr abschüssig war, rollte er davon. Er wurde immer schneller und schneller, sodass sich Tobias im Hinterherrennen anstrengen konnte, wie er wollte, aber er kam ihm nicht näher. Im Gegenteil. Bald war der Ball im Dickicht des Waldes verschwunden.

Tobias blieb stehen und war sehr traurig. Er blickte zum Hotel, aber seine Eltern waren ja in der Sauna und wollten nichts tun, weil sie endlich Zeit für sich hatten. Also machte er sich allein auf die Suche.
Er durchstreifte das nahe Unterholz, wanderte immer weiter in den Wald hinein und blieb erst nach langer ergebnisloser Suche stehen.
Er blickte sich um und erkannte schnell, dass er nicht mehr wusste, wo er war, und setzte sich auf einen alten Baumstumpf, um auszuruhen.
Ich habe mich verlaufen, dachte er.
Aber das war nicht so schlimm wie die Erkenntnis, dass er seinen Zeitball wohl für immer verloren hatte. Denn ohne ihn war er tatsächlich einsam.

Tobias weinte leise. Das war’s dann wohl. Eigentlich hatte er keine Angst so allein. Er hatte ja bisher kein anderes Leben gehabt. Aber so ohne das Einzige, was er wirklich liebte? Da fühlte er sich wirklich einsam.

Plötzlich hörte er Schritte hinter sich. Kleine Hölzer knackten. Da kam jemand näher.
Voller Mut drehte er sich um. Und hinter ihm stand ein dunkler Mann in zerlumpter Kleidung. Er trug eine graue zottlige Hose und eine graue zottlige Jacke, hatte einen grauen zottligen Bart und graue zottlige Haare auf dem runden alten grauen zottligen Kopf. Auch seine Augen schienen ebenso grau und zottlig zu sein, waren aber kaum zu sehen, weil der Bart bis fast zur Stirn hinauf gewachsen war.
„Was machst du hier so allein?“ Die Stimme des Fremden klang warm und freundlich. Sie nahm Tobias die Furcht vor seiner merkwürdigen Erscheinung.
„Ich habe etwas verloren.“
Der Alte spürte die Trauer des Jungen und setzte sich neben ihn.
„Was denn?“
„Meinen Zeitball.“
Der Mann griff sich in den grauen zottligen Bart: „Aha, deinen Zeitball.“
„Ja, du kannst mir aber nicht helfen, weil du nicht weißt, wie er aussieht.“
„Dein Zeitball.“ Der Alte brummte nachdenklich.
„Ja.“
Tobias stieg ein scharfer Geruch in die Nase, und er dachte, dass Mutter diesen Mann sicher sofort in die Badewanne gesteckt hätte.
„Woher willst du wissen“, sagte der Alte und kraulte sich immer noch den grauen zottligen Bart, „dass ich nicht weiß, wie ein Zeitball aussieht?“
„Weil er unsichtbar ist. Nur ich kann ihn sehen.“
„Und jetzt ist dein Ball in den Wald gesprungen.“
„Ja.“
„Na dann komm, lass es uns trotzdem gemeinsam versuchen, ihn zu finden. Vier Augen sehen manchmal mehr als zwei.“

Tobias wurde misstrauisch. Ob das gutgeht? Wie sollte der alte Mann etwas finden, was er nicht sehen konnte?

„Du musst wissen“, sagte der Alte nun, weil er den skeptischen Blick von Tobias gesehen hatte, „dass ich diesen Ball kenne.“
„So!?“ Tobias staunte.
„Ja, als Kind hatte ich auch so einen. Nur als ich älter wurde, hatte ich ihn irgendwo verloren. Ich habe jahrelang nach ihm gesucht. Aber ich habe ihn nie wieder gefunden. Deshalb weiß ich, wie wertvoll so ein kleiner Zeitball ist. Also komm, vielleicht finden wir ihn zusammen.“

Und beide durchkämmten mit Eifer den Wald, aber sie fanden ihn nicht. Tobias wollte schon aufgeben. Es mussten Stunden vergangen sein. Plötzlich rief der Alte:
„Hier! Mein Junge, hier! Komm her! Ich habe ihn!“

Tobias glaubte ihm zwar nicht, ging aber trotzdem zu der Stelle, wo er war. Der Alte mit den grauen zottligen Haaren und dem grauen zottligen Bart und der grauen zottligen Jacke und der grauen zottligen Hose zeigte auf eine Stelle im Gestrüpp alter Blaubeersträucher und … tatsächlich! Tobias wollte seinen Augen nicht trauen. Dort lag sein Zeitball. Bunt, klein und rund.

Er hob ihn auf und freute sich und warf ihn hoch in die Luft und fing ihn wieder auf und freute sich immer mehr. Endlich hatte er ihn wieder.

„Wer bist du eigentlich?“ Tobias kam zum alten Mann zurück.
„Ich?“ Der Alte kraulte sich wieder im zottligen Bart. „Ich bin nur ein einsamer Waldmensch auf der Suche nach meiner Zeit.“
„Ich wusste es“. Tobias lächelte. „Niemand sonst hätte den Ball gefunden.“
„Jetzt muss ich aber weiter.“ Der Alte drehte sich um und wollte wirklich gehen.
„Wo musst du denn hin?“ Tobias hielt ihn an der grauen zottligen Jacke fest.
„Ich muss mir was zum Essen suchen. Die Zeit macht nicht satt.“
„Komm doch mit zu mir. Ich kann dir was geben.“
„Nein, mein Junge, deine Eltern würden dich für total verrückt halten.“
„Warum?“
„Na, stell dir vor, du gibst mir eine Scheibe Brot und die verschwindet auch, ohne dass deine Eltern sehen wohin.“
„Bist du etwa auch unsichtbar? So für die andern, meine ich?“
„Hätte ich sonst deinen Ball gefunden?“ Der Alte lächelte gar nicht mehr so grau, eher wie ein Kind, das glücklich war, ohne darüber nachzudenken, warum es das war.
Und erstmals erkannte Tobias ein goldenes Leuchten in den alten grauen zottligen Augen zwischen dem alten grauen zottligen Fell im alten grauen zottligen Gesicht des Mannes.
„So“, sagte der Alte. „Und ich rate dir, mein Junge, pass gut auf dein Spielzeug auf. Das passiert mit der Zeit leider oft, dass die Menschen sie verlieren. Doch wenn man ihr Geheimnis kennt, dann bekommt man immer Hilfe, wenn man nach ihr sucht.“
Tobias wunderte sich darüber, woher der Mann wusste, was er selber fühlte. Das machte ihn neugierig.
„Was ist denn das Geheimnis der Zeit?“
Der Mann lächelte und setzte sich wieder zu ihm.
„Als ich ein kleiner Junge war wie du, habe ich auch oft darüber nachgedacht, warum die Erwachsenen ihre Zeit damit vergeuden, alles zu tun, um erst mal keine Zeit für sich selbst zu haben. Und dann glauben sie, dass diese Zeit später wiederkäme, weil sie dann, wenn sie nicht mehr arbeiten müssten, genug davon hätten. Doch wenn sie dann glaubten, dass es endlich soweit sei, dann war ihre Zeit meist vorbei. Oder sie taten alles dafür, um ihre viele Zeit irgendwie über die Zeit zu verbringen. Irgendwann habe ich erkannt, dass es mit der verdammten Zeit ist wie mit einem Baum. Er steht nur da und fragt nicht warum. Und er ist glücklich. Einfach so. Als Baum. Weil er einfach nur da ist. Das ist genauso mit der Zeit, mein Junge. Sie ist einfach nur da. Und wir Menschen können damit machen, was wir wollen. Sie fragt nicht nach uns. Komischerweise aber fragen wir ständig nach ihr.
Das ist wie mit der Liebe.“
„Mit der Liebe?“ Tobias wurde unruhig. Der Mann hatte mit seinen Worten ein Gefühl in ihm geweckt, das Tobias schon eine Weile kannte, aber selbst noch keine Worte dafür gefunden hatte. „Was hat denn die Liebe mit der Zeit zu tun?“
„Frag deine Eltern, mein Großer, wenn du wieder bei ihnen bist. Nimm deinen Ball und geh diesen Pfad dort entlang. Verlass ihn nicht. Der bringt dich zum Hotel zurück. Es ist schon spät.“

Tobias war sauer, weil der Mann nicht auf seine Frage geantwortet hatte.
„Ich gehe erst, wenn du mir das Gemeinsame von Zeit und Liebe erklärt hast.“
Der Alte strich sich wieder nachdenklich über den grauen zottligen Bart.
„Also gut, mein Junge. Das ist ganz einfach. Zeit und Liebe muss der Mensch so lassen, wie beide sind, nämlich einfach da. Dann hat er genug davon. Läuft er ihnen hinterher oder macht er Jagd auf sie oder will er beides besitzen, werden Zeit und Liebe immer schneller und sind einfach weg wie dein kleiner Ball hier, weil du ihnen nicht mehr folgen kannst. Denn du läufst ihnen im Grunde nicht hinterher, wenn du nach ihnen suchst, sondern du läufst vor ihnen weg, weil sie ja einfach da sind, wo du gerade bist. Denn wir können sie weder einfangen noch festhalten, weder die Zeit noch die Liebe, weil sie einfach da sind. Und zwar dort, wo wir gerade sind. Und so haben wir beides in uns gerade dann, wenn wir weder die Zeit noch die Liebe besitzen wollen. Denn du besitzt nur das wirklich, was du nicht wirklich besitzen willst. Du fühlst es jetzt, nicht wahr?“

Tobias streichelte seinen Zeitball und spürte, dass er glücklich war. Hier war ein Mensch, der tatsächlich verstand, was er fühlte.
„Aber wie bringe ich das Papa und Mama bei?“ Der Junge blickte auf den Waldboden.
„Sag es ihnen einfach. Sie werden es verstehen. Genau wie der alte Baum es uns gesagt hat. Und er hat keine Worte gebraucht. Wir haben ihn auch so verstanden. Er war einfach nur da, damit wir auf ihm sitzen konnten.“

Ich liebe diesen Fremden, dachte Tobias und hob den Kopf. Doch der alte Mann war plötzlich verschwunden. Der Junge war wieder allein und deshalb etwas traurig. Aber er spürte auch, dass er den Alten nie vermissen würde. Irgendwie war der drollige Zottelkopf schon in ihm drin.
Und bei diesem Gefühl schlug sein kleines Herz nicht mehr so schnell wie noch vor wenigen Minuten, als er ängstlich nach seinem Zeitball suchte. Es pochte nun ruhig im Takt der Sekunden.

Tobias ging den Pfad zum Hotel zurück. Als er dort ankam, sah er viele Menschen. Auch einige Polizeibeamte. Alle liefen umher und riefen seinen Namen.
Er aber suchte nach seinen Eltern und ging zu ihnen. Als erstes erblickte ihn die Mutter. Sie rannte auf ihn zu, umarmte ihn und machte ihm sofort Vorwürfe, warum er allein in den Wald gegangen sei und wie große Sorgen sie sich gemacht habe. Und der Vater stand da und schimpfte fast richtig laut, dass man die ganze Welt in Bewegung gesetzt habe, ihn zu finden, und was er sich dabei gedacht habe, einfach so wegzulaufen.

Wie sollte Tobias ihnen erklären, dass er allein unterwegs war, weil sie mal Zeit für sich haben wollten?

Der Junge drehte wortlos den kleinen Ball in seiner Hand. Sollte er die wirklich Wahrheit sagen? Sie würden ihn ja nicht verstehen. Zumindest nicht im Augenblick, weil sie so sauer waren. Aber er musste es sagen.
„Ich habe meine Zeit verloren und bin ihr hinterhergerannt und habe sie mit einem alten Mann zusammen wiedergefunden. Und dieser Mann hatte ein großes Herz.“

„Oh Gott!“ Die Mutter fasste an die Stirn des Jungen. „Jetzt ist er auch noch krank. Und das ausgerechnet im Urlaub. Komm, du musst großen Hunger haben. Und dann geht’s sofort ins Bett.“

Tobias folgte den Eltern ins Hotel. Alle Erwachsenen waren glücklich, dass er wieder da war. Er aber blickte nur auf den kleinen bunten Ball in seiner Hand und lächelte stumm in sich hinein.
Als Vater und Mutter ihn ins Bett brachten, ihn zudeckten und ihm einen Kuss auf die Stirn gaben, sagte er leise:
„Und trotzdem.“
„Was, und trotzdem?“ Vater und Mutter sahen sich an. Sie verstanden zwar nicht, was er damit sagen wollte, aber beide hatten Tränen in den Augen.
„Und trotzdem hab ich euch lieb. Auch wenn ihr so wenig Zeit für mich habt. Ich habe genug davon für uns alle.“

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